Alejandro Jodorowsky Box
(Bildstörung)
Als mir Björn Candidus – mein Freund im Kunst- und Filmgeiste – anlässlich der
deutschen DVD- und BluRay-Veröffentlichung der Meisterwerke Jodorowskys durch das
renommierte Label „Bildstörung“ den Vorschlag unterbreitete, eine „Retrospektive“ über
das surreale Œvre des chilenischen Künstlers Alejandro Jodorowsky zu verfassen, fühlte
ich mich geehrt und sprachlos zugleich. Wie sollte ich diesen geradezu prometheischen
Werken nur in Schrift und Wort gerecht werden, ohne dabei ihre surreale Faszination und
symbolische Aussagekraft zu untertreiben oder gar zu vernachlässigen?
Schon allein der Gedanke an eine analytische Handlungswiedergabe gleicht einer
Blasphemie. Wie ein Werk Dalís - beispielsweise sein unter der Allgemeinheit wohl
bekanntestes Meisterwerk „La persistencia de la memoria“, welches im Deutschen mit
„Die Beständigkeit der Er-Innerung“ übersetzt werden kann – so sind auch Jodorowskys
Filme für die menschliche Ratio unergründlich. Genau dies ist auch die Intention der
Surrealisten, welche mit ihren bewusst irrationalen Werken unsere durch Effizienz und
Rationalität geprägte moderne Gesellschaft auf geradezu obszöne Weise auf den Kopf
stellen, um u.a. eine Kontemplation des Konsumenten zu initiieren. Diese Konstatierung
der Unanalysierbarkeit seiner Werke weiß Jodorowsky mit seiner ironischen Anmerkung,
dass er seine Filme „mit [s]einen Eiern mache (sic!)“, zu unterstreichen.
Der Sinn seiner Kunstwerke bleibt aufgrund dieser Irrationalität dem menschlichen
Bewusstsein verborgen, was zwangsläufig zur inneren Konfrontation des Betrachters mit
sich selbst (zur Katharsis) führt, zumal diese surrealen Welten das Unterbewusstsein des
Menschen anregen.
Zwar ist der Einwand berechtigt, diese Kunstform sei auch wissenschaftlich, psychologisch
und philosophisch zu erschließen, jedoch führt diese Herangehensweise zu einem
Mangel, zum entstellten Abbild dessen, was man als Sinn seines Archetyps bezeichnet.
Dennoch werde ich in meiner Filmrezension einige solcher Symbole und Anspielungen
nicht unerwähnt lassen, da sie eine große Relevanz für das Verständnis der Werke
Jodorowskys darstellen. Anbei ist zu erwähnen, dass Alejandro Jodorowsky neben der
Ausbildung zum Pantomimen bei Marcel Marceau auch die Studiengänge Psychologie
und Philosophie absolviert hat, deren Einflüsse evident auf seine künstlerischen Werke
abfärbten.
In Jodorowskys Filmen ist besonders die Affinität zu den philosophischen Strömungen der
Antike, insbesondere der altgriechischen Gnosis (Erkenntnis),des altindischen Buddhismus
und der Veda-Philosophie (Upanischaden), erkennbar. Aber auch Anspielungen auf die
Bibel und anderen religiösen Schriften sind in seinen Filmen en masse enthalten.
Wiederkehrendes Thema in seinen Filmen ist die Sinnsuche der Protagonisten und die
daraus resultierende Desillusion. Dabei sind die Protagonisten meist Repräsentanten der
modernen Gesellschaft, die in Ermangelung eines ihrem Sein zugrunde liegenden Sinns
nach Eudämonie, Schönheit, Wahrheit (Aletheia) und Unsterblichkeit streben. Dieses
Unterfangen mündet schließlich im absoluten Chaos, in destruktive Selbstverfremdung
und Desillusion, weil die Protagonisten keinerlei Rechenschaft ablegen können.
Anbei werde ich die in der Jodorowsky-Box enthaltenen Filme rezensieren, wobei es mir
als angebracht erscheint, „El Topo“ - Jodorowskys wohl komplexester und kryptischster
Film – ausführlicher zu beschreiben, um dessen besseres Verständnis garantieren zu
können.
Fando und Lis
Alejandro Jodorowskys Debütfilm, der unter schwierigen Bedingungen gedreht wurde,
thematisiert in halluzinogenen Bildern, welche unter anderem aus Dante Alighieris
Göttlicher Komödie zu stammen scheinen, die sadomasochistische Liebe
zwischen dem impotenten Fando und seiner gelähmten Geliebten Lis, sowie deren
vergebliche Suche nach der Glück verheißenden Stadt Tar, in welcher sie ein Leben in
Eudämonie und Hedonismus erhoffen, um ihre verdrängte Vergangenheit und ihr
sinnloses Dasein kompensieren zu können. Doch der vermeintlich richtige Weg dorthin
entpuppt sich allmählich als wahrer Höllentrip, der die Protagonisten mit ihren Ängsten
und mit unheimlichen Begegnungen konfrontiert.
El Topo
Dieser zweiteilige und ihn vier Abschnitte gegliederte Film ist sowohl eine apokalyptische
Odyssee eines selbsternannten „Gottes“ durch die Wirren der Menschheit, als auch eine
Parabel über die Paradigmen unserer der Dekadenz anheim gefallenen Wohlstandsgesellschaft.
Diese vier Abschnitte (Genesis-Propheten-Psalme-Apokalypse)
haben Symbolcharakter und korrespondieren mit der Entwicklung El Topos im Verlaufe
des Films. Sie erinnern an die vier Erkenntnisstufen aus Platons Höhlengleichnis, welches
er in seinen Hauptwerk „Politeia“ (514 a. ff.) formuliert. Einem Maulwurf gleich wühlt sich
„El Topo“ (span. der Maulwurf) durch die menschliche Welt zur vermeintlichen Erkenntnis,
um schließlich von der Menschheit völlig verblendet die Nichtigkeit allen Strebens
eingestehen zu müssen und in Kontemplation versinkt, deren Folgen einen altruistisch
handelnden Menschen hervorbringen.
Der Vorspann des Filmes beginnt mit dem Gleichnis über einen Maulwurf, der sein ganzes
Leben lang unter der Erdoberfläche Tunnel gräbt (!) und nach der Sonne sucht. Wenn er
ihr jedoch gewahr wird, ist er sogleich ob ihrer gleißenden Helligkeit geblendet.
Diese etwas abgewandelte Form von Platons Sonnengleichnis beschreibt das Wandeln
des Menschen in Unkenntnis, welche durch „Maya“ (Illusion) hervorgerufen und erst durch
die Seelenerkenntnis (Katharsis) aufgebrochen wird. Ferner mündet diese
Selbsterkenntnis in das dem Menschen inhärente Streben nach Wahrheit (griech.
Aletheia).
Über die Handlung dieses ersten „Midnight-Movies“ lässt sich nur sehr schwer referieren,
da sich dieses erhabene Kunstwerk generell einer objektiven Analyse entzieht.
Deswegen gebe ich nur eine grobe Beschreibung der Filmhandlung wieder:
El Topo (Alejandro Jodorowsky), ein schwarzgekleideter Revolverheld und selbsternannter
Gott, reitet mit seinem nackten, siebenjährigen Sohn Brontis (Brontis Jodorowsky) durch
die Wüste. Als sie an einem einsam im Wüstensand steckenden Pfosten Halt machen,
eröffnet ihm sein Vater, dass er mit seinen sieben Jahren nun ein Mann sei und deswegen
symbolisch für diese Initiation sein erstes Spielzeug sowie das Bild seiner Mutter im Sand
vergraben müsse.
Etwas später treffen beide in einem abgeschiedenen und von Blut umsäumten Dorf ein
und werden den Folgen eines dort stattgefundenen horrenden Massakers gewahr, von
welchem nicht nur die Einwohner, sondern auch die Nutztiere des Dorfes betroffen waren.
Überall sind aufgehängte, aufgespießte und aufgeschlitzte Leichname von Menschen und
Tieren auszumachen. Der einzig Überlebende des Dorfes bittet El Topo, ihn von seinen
Qualen zu erlösen. Erst nach der Frage El Topos, wer der Verantwortliche dieses
Massakers sei, aber von dem Gefragten keinerlei Antwort erhält, übergibt El Topo seinen
Revolver an seinen Sohn, der dem alten leidenden Mann den erlösenden Gnadenschuss
versetzt. El Topo und sein Sohn machen sich auf, die Mörder und ihren Anführer ausfindig
zu machen.
Die anschließende Szene zeigt drei Delinquenten, wie sie ihre Langeweile durch müßige
Handlungen zu kompensieren versuchen. Als sich die Wege von El Topo und den drei
Banditen kreuzen, kommt es zum Duell. Zwei Banditen werden von El Topo gleich
gerichtet. Der Dritte wird von El Topo zwei Mal an den Beinen blutig angeschossen, um
nicht fliehen zu können.
Auf El Topos Frage hin, wer der Anführer und Verursacher des obig erwähnen Massakers
sei, eröffnet ihm dieser, ihr Anführer heiße „Colonel“ und habe sich zusammen mit den
Übrigen seiner Sippe in einer nahe gelegenen Franziskaner-Mission verschanzt.
Der Schauplatz wechselt in diese Mission, in der sich grausame Szenen abspielen:
Während vier Mitglieder der Gruppe des Colonel Ordensbrüder quälen und auf infamste
Weise demütigen, erschießt ein weiterer willkürlich Menschen in der Mission. Der Colonel,
der sich vom Rest seiner Meute in einer Art steinernem „Kegelhaus“ isoliert, begegnet
diesem Szenario gleichgültig.
Erst als die Dienerin (Mara Lorenzio) des Colonels Objekt dieser ominösen
Verhaltensweisen wird, greift der Colonel aktiv in das Geschehen ein. Er befielt seinen
subordinierten Gehilfen, zu bellen und sich wie Hunde zu verhalten, bevor er ihnen die
Frau als Opfer darbringt. Parallel dazu schleicht sich El Topo in die Mission und tötet
einige Wächter. Als der Colonel der Frau brutal ihre Kleider zerreißt und sie seinen
lüsternen Lakaien als „Frischfleisch“ anbietet, schießt El Topo auf die Bande und
überwältigt sie, indem er ihre Waffen an die nun befreiten Franziskaner übergibt, die sich
an den Qualen der von El Topo gerichteten Delinquenten ergötzen. Abschließend fordert
El Topo den Colonel zum Duell auf, welches die Kastration des Colonels und dessen
darauf folgender Suizid zur Folge hat.
Kurz vor dem Aufbruch aus der Mission bietet die Frau El Topo ihre Begleitung an, welche
er zuerst entschieden ablehnt, sich aber wegen ihrer Sturheit überreden lässt und Brontis
in die Obhut der Franziskaner gibt.
Als sie an einer abgelegenen Wasserstelle eine Rast einlegen und die Frau aus dem Teich
zu trinken versucht, bemerkt sie die Bitterkeit des noch ungetauften Wassers. Um das
bittere Nass trinkbar zu machen, tauft es El Topo auf den Namen „Mara“, welchen er auch
für die Frau als prädestiniert erachtet.
Da Mara und El Topo nun in der Hitze der Wüste darben müssen, treten El Topos
übersinnliche Kräfte zu Tage. Beispielsweise ist er in der Lage, aus Steinen Wasser
sprudeln zu lassen oder Schildkröteneier unter den gespreizten Beinen der Frau aus dem
infertilen Wüstensand auszugraben. Als Mara versucht, es El Topo gleich zu tun, bemerkt
sie ihr Unvermögen, derlei Wundertaten zu vollbringen. Erst nach dem Vollzug des
geschlechtlichen Aktes mit El Topo stehen auch ihr diese Fähigkeiten zu Gebote.
Mara kann die Liebe El Topos nicht erwidern, da sie nur absolute Helden lieben will, das
heißt, sie will ihn nur dann lieben, wenn er über alle vier Meister der Wüste siegt und
keines Beweises mehr bedarf, da er sich für ihren Egoismus als Eros entschieden hat.
El Topo macht sich auf, die vier Meister aufzusuchen und durch List zu besiegen. Doch die
Liebe zu Mara will nicht fruchten, da sie durch eine schwarzgekleidete Frau (Paula Romo),
die das Paar schon seit dem Sieg über den ersten Meister begleitet, fremdbestimmt und
durch Illusion verblendet wird und kaum Beachtung für die Errungenschaften El Topos
bemerken lässt.
Nach vermeintlich erfolgreichem Kampf gegen den letzten Meister, konstatiert El Topo
voller Verzweiflung seine Illusion, Sieg und Erfolg (mittels Gewalt) seien die absoluten
Initiatoren der Eudämonie und (inneren) Stärke. Diese Erkenntnis bringt El Topo dazu, zu
der Todesstätte des ersten Meisters zurückzukehren und seinen Revolver symbolisch zu
zerstören.
Danach stellt El Topo Mara vor die Wahl, ob sie ihn oder die Frau begleiten möchte,
worauf sich Mara für die Frau in Schwarz entscheidet.
El Topo wird nach Maras Wahl auf einer zwei Ebenen (ontologisch:Ambivalenz und
Dipolarität) verbindenden Hängebrücke wie der kerygmatische Jesus von der Frau in
Schwarz verletzt und gerichtet. Während Mara mit der Frau in Schwarz weiter reitet, wird
der sterbende El Topo von einem Invalidenheer in eine Höhle getragen, welche
Ausgangspunkt des zweiten Teils des Films darstellt und mit der „Wiedergeburt“ und
Katharsis El Topos korrespondiert.
Als der von den Invaliden als Gott und Erlöser verehrte El Topo nach langer Zeit aus
seiner Kontemplation erwacht, lässt er dieser sogleich Taten folgen und nimmt sich vor, die
Invaliden aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Da er sich in die kleinwüchsige Frau
(Jaquline Luis) verliebt hat, beschließt er, mit ihr zusammen in die unweit der Höhle
befindlichen Stadt zu wandern, um Geld für den Bau eines aus der Höhle führenden
Tunnels zu verdienen.
Da sie mittels clownesker Darbietungen Aufsehen und Sympathie in der dekadenten Stadt
erregen, werden sie immer mehr mit der brutalen und grotesken Seite derselbigen
vertraut.
Eines Nachts wird das Paar in einer Art Nachtclub dazu genötigt, zur Belustigung des
Publikums miteinander zu schlafen, worauf die kleinwüchsige Frau von El Topo
geschwängert wird. Am nächsten Morgen beschließen sie, in der städtischen Kirche, in der
El Topos Sohn Brontis als Priester zugegen ist, zu heiraten.
Nach kurzer Auseinandersetzung mit seinem Vater beschließt Brontis, ihnen beim Bau des
Tunnels behilflich zu sein und überwindet bei dessen Fertigstellung seine Rachegelüste
gegenüber seinem Vater, in dem er ihn begnadigt. Anschließend stürmen die von El Topo
befreiten Invaliden auf die für sie Glück und Paradies verheißende Stadt zu und werden
kurzerhand von deren Bürger erschossen, worauf sich El Topo für dieses
himmelschreiende Massaker rächt und sich danach selbst verbrennt. Währenddessen
gebiert die kleinwüchsige Frau El Topos Sohn.
Die verkohlten Überreste werden von Brontis und der kleinwüchsigen Frau begraben.
Danach reiten sie gemeinsam mit dem Neugeborenen von dannen.
Der heilige Berg
In seinem dritten abendfüllenden Spielfilm, der von Allen Klein produziert wurde und von
schier unglaublichen surrealistischen Bildern und Ideen nur so strotzt, nimmt sich
Jodorowsky unserer durch Illusion geprägten Wohlstandsgesellschaft an und entwirft
somit eine desillusionierende Dystopie unseres heutigen Daseins.
Ein verwahrloster, phänotypisch dem historischen Jesus ähnlich sehender Dieb (Horácio
Salinas), findet sich in einer dekadenten und durch Illusion verblendeten Gesellschaft
wieder.
Eines Tages dringt der Dieb auf der Suche nach Gold in das Refugium eines Alchemisten
(Alejandro Jodorowsky) ein, um ihn zu bestehlen. Der Alchemist gewährt ihm sein Sehnen
nach Gold, in dem er symbolisch aus dessen Exkrementen Gold herstellt. Im Gegenzug
hilft ihm der Alchemist, sich seinen Illusionen durch ein Initiationsritual zu entledigen, um in
absoluter Askese zusammen mit anderen „Dieben unserer Welt“ den heiligen Berg zu
erklimmen und auf diesem ewiges Leben zu erfahren.
Doch als sich die Gefährten gemeinsam mit dem Alchemisten dazu aufmachen, den
heiligen Berg zu suchen und zu erobern, wird ihr Wille durch unheimliche Begegnungen
ihrer verdrängten Selbst und durch Versuchungen jeglicher Art gnadenlos auf die Probe
gestellt. Auf dem Gipfel des Berges angekommen, fallen sie der Desillusion ihres Lebens
anheim und der Film selbst offenbart sich als bloße Illusion.
Bewertung:
Alle drei Meisterwerke von Alejandro Jodorowsky, die bei Cineasten und Kunstfreunden
keinerlei Kritik bedürfen, werden uns gegen ein „vergleichsweise“ günstiges Entgelt (ca.
58€ - 60€) in einer prachtvollen Box mit vielen informativen Extras (u.a. Jodorowskys
Kurzfilm „La cravate“ und den Soudtracks zu „El Topo“ und „The holy mountain“) und in einer
atemberaubenden Bild- und Tonqualität präsentiert, welche jedes Cineastenherz höher
schlagen lassen. Zudem werden jeder direkt bei Bildstörung getätigten Bestellung acht
Postkarten mit Motiven aus „El Topo“ und „The holy mountain“ beigelegt.
Hier wurden von dem Label „Bildstörung“ wie gewohnt weder Kosten noch Mühen
gescheut, um diese von Film- und Kunstkennern verehrten Meisterwerke in einer sowohl
qualitativ als auch quantitativ hervorragenden Jodorowsky-Collections-Box in Deutschland
zu veröffentlichen. Bravo Bildstörung!
(Gastkritik: Sebastian V. Hauser)